Aaaaa-ii! – mit einem Furcht erregenden Kampfschrei auf den Lippen nehmen die Männer von Karatsu die 50 Meter langen Seile auf, spannen ihre Muskeln und bringen die überdimensionale Seebrasse auf vier Rädern ins Rollen. Ein Dutzend Trommler schlägt mit stoischer Ruhe den Takt und heizt die Stimmung durch treibende Rhythmen an. Mädchen in blütenweißen Kimonos laufen mit fragilen Papierlaternen neben dem Tonnen schweren Festwagen her und illuminieren die von zu viel Reiswein geröteten Gesichter der Zuschauer, die in Massen zum Start des dreitägigen Kunchi-Festivals erschienen sind. In abenteuerlicher Schräglage biegt der rostrote Riesenfisch mit den schwarzen Kulleraugen um die Ecke, gefolgt von einer weiteren Hundertschaft keuchender Männer. Sie ziehen einen Drachen, auf dessen Flügeln zwei Einpeitscher für Tempo sorgen. Und schon kündigen rhythmische Rufe den nächsten Festwagen an. Er trägt das schwarz glänzende Haupt eines Samurais. Seinen reich verzierten Hut krönt ein wütendes Seeungeheuer in Gold.
– Kunchi-Festivals –
Trotz Hightech-Industrie steht Tradition in Kyushu hoch im Kurs
Zugeben: Als Europäer steht man eher ratlos in der Menge und weiß nicht, was die vorbeirollenden Wesen aus Nippons reicher und komplexer Götterwelt bedeuten. Doch spätestens nach dem Glas Sake, das einem über mehrere Köpfe hinweg gereicht wird, springt der Funke über: Man stimmt in die Anfeuerungsrufe ein und folgt dem Killerwal, der auf dem letzten der insgesamt 14 Wagen thront, in Richtung Karatsu-Schrein. Zu dessen Ehren wird das Fest alljährlich im November abgehalten. Flankiert von Nippes-Buden und Garküchen, die mit gegrilltem Tintenfisch und Nudelsuppe locken, drängen sich die Zuschauer vor einem steinernen Torbogen, der den Eingang zum aus allen Nähten platzenden Tempelbezirk markiert. Im Vorhof spendet ein Bronzedrache Wasser zur rituellen Reinigung der Hände und des Mundes. In mächtigen, mit Sand gefüllten Kesseln glühen unzählige Weihrauchstäbchen, die den Platz in aromatische Nebel hüllen. Die Anwesenden opfern ein Stäbchen, um dann damit dasjenige Körperteil zu beräuchern, das der Heilung bedarf. Vor dem eigentlichen Schrein drängen sich die Menschen um eine Art Krippe, über die ein Rost gespannt ist, man wirft Münzen hindurch und schlägt zu Ehren der Ahnen eine hölzerne Trommel an. Zahlreiche Bäume in der Nähe des Schreins sind mit Orakelzetteln bedeckt. Es sieht aus, als hätten sich Schmetterlingsschwärme darauf niedergelassen. Ein Fink zieht mit dem Schnabel an der Glocke eines Minischreins, hüpft hinein und bringt den Zettel heraus.
Widersprüchliches Japan
Verglichen mit der hektischen Metropole Tokyo empfängt einen die rund 1000 Kilometer südlich gelegene Insel Kyushu mit Bildern aus einer total anderen Welt. Kyushu ist nämlich „ura Nihon“, ländliches Japan. Trotz gezielter Ansiedlung von Hightech-Industrie und boomender Metropolen wie Fukuoka oder Nagasaki hält die Zivilisation respektvoll Distanz zum vulkanisch geprägten Inselinneren. Hier steht noch „giri“, der alte Kodex der Nachbarschaftshilfe, hoch im Kurs. In ganz Asien berühmt sind Kyushus „Onsen“, die extrem heißen Thermalquellen, die an jeder Ecke aus der Erde sprudeln. Kaum ein Landgasthaus oder Resort, das seinen Gästen nicht einen natürlichen Pool im Freien anzubieten hat. Hauptstadt des bei Jung und Alt äußerst beliebten Onsen-Kults ist der Kurort Beppu im Nordosten der Insel. An mehr als 3000 Stellen tritt im Las Vegas der Thermalbäder heilkräftiges Wasser aus. Es speist viele öffentliche Bäder, die so für wenig Geld Wellness vom Feinsten anbieten. Sehr angesagt: Beppus Schlammbad mit milchig weißem, etwa einen Meter tiefem Wasser. Die Badenden waten darin oder schmieren ihren Körper damit ein.
Ganz besonderer Nervenkitzel
Eher in den mondänen Pools der zahlreichen großen Luxushotels sucht der japanische Tourismus-Adel Entspannung für Körper, Seele und Geist. Oder er gönnt sich einen Nervenkitzel der ganz besonderen Art: den Blick in den 160 Meter tiefen Krater des noch äußerst aktiven Vulkans Nakadake im Massiv des Mount Aso. Immer wenn wieder giftige Schwaden aufsteigen, wird der Betrieb der Gipfelseilbahn eingestellt. Für den Fall, dass es plötzlich Steine regnen sollte, stehen am Rand sogar Betonfluchtbunker parat. Als absolutes Muss für Trekking-Fans gilt der Kirishima Range Nationalpark im subtropischen Süden Kyushus. Mit der Besteigung des 1700 Meter hohen Mount Karakunidake und fünf weiterer erloschener Vulkane wartet dort eines der alpinen Highlights im Land der aufgehenden Sonne. Schwefelbrocken knirschen unter den Stiefeln, aus kleinen Löchern in der warmen Erde strömt der Geruch fauler Eier. Vorbei an Dutzenden von grauen Minikratern zieht sich der Pfad steil nach oben. Grandios ist der Panoramablick, den der Wanderer dann vom Gipfel des Karakunidake erlebt. Eine pittoreske Mondlandschaft mit insgesamt 22 Vulkanen, von denen zehn mit Wasser gefüllt sind, liegt dem Betrachter zu Füßen.
Ein gigantisches Wasser-Paradies
Aber auch Wasserratten kommen auf Kyushu voll auf ihre Kosten. Die beliebtesten Hideaways sind der schicke Badeort Miyazaki an der feinsandigen, von Palmen und Pinien gesäumten Ostküste der Insel und der nur einen Katzensprung entfernte Resort-Komplex Seagaia. Dort steht mit dem futuristischen Ocean Dome die größte überdachte Wassersportanlage der Welt. Neben Wellenreiten, Wasserfallklettern und Röhrenrutschen kann der Gast in dem gigantischen künstlichen Paradies auch virtuell auf den schwierigsten Flüssen der Welt paddeln und wird dabei sogar nass! Natur pur bieten dagegen die insgesamt mehr als 70 Amakusa-Inseln, die durch fünf mautfreie Brücken mit Kyushus Westküste verbunden sind. Eine reizvolle Route ist die Amakusa Pearl Line. In den kobaltblauen Gewässern wird seit Generationen erfolgreich Perlenzucht betrieben. Hotspot des Archipels ist der Amakusa Nationalpark im Westen der Hauptinsel Shimo. Im Veilchenblau der East China Sea spielen Delfine. Fischadler ziehen ihre Kreise. Zwischen bizarren Felsformationen leuchten weiße Sandstrände. Vom Underwater Observation Boat bis zum romantischen Sunset Cruise samt Luxusdinner wird alles geboten, was Großstadtjapaner von einer Reise in den subtropischen Süden des Kaiserreichs erwarten.